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Zerschlagene Ohren 13.6.1996, Café Karin

kamillentee

Anwesend: Thomas Erdelmeier, Markus Halbe, Stefan Beck

Notizen:

» Seminar 01 - Nichts tun?

» Seminar 02 - Zielgerichtetes Nichts...

» Seminar 03 - Maschinen/Ästhetik?

» Seminar 04 - Kulturinstitutionen

» Seminar 05 - Darmstädter Manifest

» Seminar 06 - Hör zu oder stirb? I

» Seminar 07 - Negativität der Kultur

» Seminar 08 - Ein Desaster, das...

» Seminar 19 - nur bis zur Antike

» Seminar 10 - Zerschlagene Ohren

» Seminar 11 - Homo oeconomicus

» Seminar 12 - Various...

» Seminar 13 - Kapital. Wirklichkeit

» Seminar 14 - Über das Seminar

Eine Frage des Seminars könnte die Stellung von diskursiver Sprache in den neuen Medien, und dazu können wir auch elektronisch erzeugte Tanzmusik rechnen, behandeln. Welche Rolle spielt Sprache auf Veranstaltungen des sogenannten Undergrounds? Um welche Sprache handelt es sich?

Wir hatten uns das letzte Mal vorgenommen einzelne Texte genauer zu lesen und dann dem Seminar vorzutragen. Stefan hatte sich bereiterklärt Norbert Bolz "Theorie der neuen Medien" (Raben Verlag, leider vergriffen) vorzubereiten. (Ein ähnlich gelagerter, wenn nicht so ergiebiger Ansatz findet sich bei Kittler: Der Gott der Ohren, in europaLyrik, 1775 - heute, hg. Klaus Lindemann. Paderborn-München-Wien-Zürich 1982 )
In folgenden eine kurze Zusammenfassung des ersten Kapitels: "Zerschlagenen Ohren".

(1)Bolz beginnt mit der Feststellung, daß die Frage nach einem physiologischen Apriori (=Voraussetzung) eines Denkens keine hermeneutische (=auslegende) sondern eine medientechnologische wäre. Zurückgreifend auf Nietzsche käme es auf ein neues Hören an, das fein und subtil genug wäre, das ständige von sich reden des Menschen aufzufangen. Denn der Mensch (also auch der Philosoph) spräche immer nur von sich selbst.

(2) Aber erst die Psychoanalyse habe dies zum Programm und das Sitzungszimmer zur Apparatur zur Aufzeichnung von Selbst-Gesprächen gemacht. Richtig hören hiesse (dechiffrieren) die "Differenz von Medium und Gesagtem" wahrzunehmen

(3) Dies zu realisieren habe Nietzsche mit seinem Zarathustra unternehmen wollen: eine maximale Energie der Zeichen entfalten, das Wort als Klang (und nicht als Bedeutung) herzustellen.

(4) Was aber Zarathustra unter dem rechten Hören verstehe, sei keine Hermeneutik (eines Sinns) sondern eine Entfaltung einer Physiologie des Hörens, die in das Reich des Signifikanten einführe (Signifikant = Lautbild oder Geräusch des Wortes; bei Lacan mit der Stimmer des Vaters gleichgesetzt). Nietzsche konnte daher schreiben: "Unsere Ohren sind immer intellectualer geworden. Deshalb ertragen wir jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr Lärm, weil wir viel besser eingeübt sind, auf die Vernunft in ihm hinzuhorchen."

(5) Aber die modernen Ohren seien viel besser dazu geübt wegzuhören, als hinzuhören.(6) Nietzsche, der wegen einer neurotischen Sehschwäche teilweise vollkommen blind war, ist sich trotzdem im Klaren, daß die moderne Bildung ihren Eingang über das Ohr erzwingt. Die Studenten auf der Universität können soviel hören, wie sie wollen, wenn sie nur brave Ohrendiener ihres Professors sind, der soviel reden kann, wie er mag. Ohren haben, heißt hören-müssen.

(7) Nietzsche kann deshalb nur zu denen sprechen, deren Ohren reif für die Botschaft Zarathustras sind.

(8) Das Produkt der breiten Masse ist nicht die Rede, sondern das Gerede: Denn alles redet, und deshalb wird alles überhört, zerredet, verraten. Die Ohren sind mit Bildung verstopft. Nietzsche sucht die "organisierte Schwerhörigkeit" seines Zeitalters zu bekämpfen (ein niemand versteht mich fragt auch immer zuerst nach dem rechten Ohr), er fragt, ob er ihnen nicht erst die Ohren zerschlagen müsse? Hier verweist Bolz auf ein Fragment des Heraklit (B50): "Wenn man - nicht auf mich, sondern - auf die Auslegung hört, ist es weise, beizupflichten, daß alles eins ist". Das rechte Hören bestünde nicht darin auf den Autor (Sinn) zu hören, sondern auf den LOGOS (s.a. Derrida).

(9) Nietzsche weiß aber selbst, daß seine Schriften, die mit den Augen gehört werden wollen, nicht sofort von jedermann verstanden werden können. Die Leser müssen erst die entsprechenden Ohren für die Botschaft entwickeln. Nietzsche verlangt, der Text müsse so gelesen werden, als ob einem jedes Wort zugerufen würde.

(10) Hier sagt nun Heidegger, daß im Hören schon von jeher die Offenheit des Daseins für sein Seinkönnen bestünde, und das vor jeder physiologischen Wahrnehmung eines Klanges. Zitat:"Zunächst hören wir nie und nimmer Geräusche und Lautkomplexe, sondern den knarrenden Wagen, das Motorrad. Es bedarf schon einer sehr künstlichen und komplizierten Einstellung, um ein reines Geräusch zu hören." Heidegger nennt das faktisch. (Wenn wir hören, so hören wir als aller erstes Fakten, wir ziehen aus der Sprache gerade die Botschaften heraus, die uns am nächsten sind.

(11) Aber es geht Nietzsche hier um den Ton, nicht um den Sinn. Es geht um die Stimme des Schreibenden und die Ohren des Lesers.

(12) Mit den Ohren lesen heißt sich seiner eigenen Leiblichkeit gewahr zu werden. Damit ist Zarathustra seiner Zeit weit voraus, und weil sehr so weit weg ist von allen, muß er sich auch seiner eigenen Aufgabe erst zurufen, um sie dann weiter vorlaufend, zu erfüllen. Zitat: Demnach spricht der neue Philosoph >>nur vorläufig und versucherisch, nur vorbereitend und vorfragend, nur vorspielend zu einem Ernste, zu dem es eingeweihter und auserlesener Ohren bedarf (Nietzsche)<< (Das ist der Anfang des Projektes, der Welt als Entwurf, sie denkend vorauseilend auf sich selbst zu ent-werfen. s.a. Heidegger)

(13) Zarathustra wird so zum Selbstempfänger und Verkünder seiner eigenen Sendung. Aus "Wer bin ich?" wird "Sprich Dein Wort und zerbrich". Nietzsche kann daraufhin niemanden seiner Zeitgenossen mehr hören, sondern erwartet von Ferne und Fremde eine Stimme, die zu ihm sprechen möge. (Einmal glaubte er sie in Lou Salomé gefunden zu haben)

(14) So bleibt Nietzsche allein mit sich und seiner eigenen Stimme. Um einen Dialog führen zu können, hätte er ein Tonband gebraucht.

(15) Während die Suche nach der geliebten Stimme in die Furcht vor ihrem realen Eintreffen mündet.

(16) Denn das Ohr ist das Organ der Furcht. Und fruchtbar sind allein die Stimmen der anderen, die einem Ohr, das sich bereit gemacht hat das leiseste Anzeichen seiner geliebten Stimme zu hören, wie schrecklicher Lärm vorkommen müssen.

(17) Das Gemurmel, das Gerede schwillt immer mehr an, bis es Orkanstärke erreicht. (= Gesellschaft, Großstadt, Zivilisation).

(18) Um von diesem gewaltigen Lärm nicht überwältigt zu werden, müssen, die auf die geliebte Stimme (=eigene Sendung) warten, zu einem anderen Hören finden. Zum einen, indem der Lärm selbst in die Musik aufgenommen wird. (Emanzipation des Lärms, des Geräusches wie es in der Musik des 20. Jhds stattgefunden hat, Strawinsky, Varèse)

(19) Zum anderen indem in der eigenen Stimmer das Diktat, der Befehle, das Kommando verstanden und aufgedeckt wird. Sender und Empfänger sind miteinander verkoppelt.
Statt "Was ist?" (=klassische Ontologie) fragen: "Wer spricht?" Wer hat die Macht neue Namen zu erfinden. Wer muß zuhören? - Verstanden werden wollen, heißt sich konsequent zum Diener (Empfänger/Medium) der eigenen Sendung zu machen. Nietzsche will daher für die zukünftigen Herren der Erde schreiben. (Denn: Gott ist tot). Verständlich sprechen, heißt also Abgrenzungen vornehmen, Distanz halten, Auschließen, Fernhalten.

(20) Wahrheit kann nur noch von ferne kommen. (Das ist der Ursprung der Medientechnologie als Telemachie. Massenmedium ist eigentlich ein Widerspruch, denn aus Nietzsches Position heraus, ist das Medium gerade darum nötig, um die weit verstreut in der Ferne lebenden Freunde mit der geliebten Stimme in Verbindung zu setzen, sie zu Empfängern einer nur für sie bestimmten Botschaft zu machen.)

(21) Nietzsche weiß darum, daß er auf jede Gegenrede/Antwort verzichten muß. Kleine Ohren, aber großer Mund gegen die anderen.

(22-25) In der Frage Nietzsche oder Wagner nimmt Nietzsche nur scheinbar gegen Wagner Stellung, er sucht den Wagner der kleinen Ohren gegen den wirkungsmächtigen, volkstümlichen, allzuverständlichen (deutschtümelden, antisemitischen, protofaschistischen) Wagner zu verteidigen. Ersteren nennt er auch Bizet.
Im Hinblick auf diesen Wagner mußte er schon früh fragen, ob man Wagners Musik ohne Beihilfe von Wort und Bild wahrnehmen könne, ohne zugrunde zu gehen. Daher kann sein Buch nur noch als Musik bestehen. Zarathustra soll Musik sein, wenn die Gelehrten, die fremden Stimmen nicht singen können.
In der Bibliothek ist kein Platz für Stilfragen des Hörens. Wissenschaft ist ohne Rhythmus und Tanz. Beim Leiselesen sind die Ohren beiseitegelegt. Es kommt aber auf die Physiologie der Stimme im Text an.
Zitat Nietzsche: "Das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempos, an denen die antike öffentliche Welt ihre Freude hatte."

(26) Solange aber dieses Programm technisch, d.h. ohne Tonband, nicht zu verwirklichen war, konnte er nur das Buch im Buch zerstören: die Philosophie mit dem Hammer.
Denn Lesen geht im über die Augen, mündet in ein Hören-Müssen auf andere, während es um ein Hören-können auf die Stimme des Anderen (Bolz) gehe.
Zitat Nietzsche:" Meine Augen machten ein Ende mit aller Bücherwürmerei, auf deutsch: Philologie: ich war vom Buch erlöst, ich las jahrelang Nichts mehr - die grösste Wohltat, die ich mir je erwiesen habe."