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Verschiedenes 27.6.1996, Café Karin

kamillentee

Anwesend: Thomas Erdelmeier, Markus Halbe, Stefan Beck

Notizen:

» Seminar 01 - Nichts tun?

» Seminar 02 - Zielgerichtetes Nichts...

» Seminar 03 - Maschinen/Ästhetik?

» Seminar 04 - Kulturinstitutionen

» Seminar 05 - Darmstädter Manifest

» Seminar 06 - Hör zu oder stirb? I

» Seminar 07 - Negativität der Kultur

» Seminar 08 - Ein Desaster, das...

» Seminar 19 - nur bis zur Antike

» Seminar 10 - Zerschlagene Ohren

» Seminar 11 - Homo oeconomicus

» Seminar 12 - Various...

» Seminar 13 - Kapital. Wirklichkeit

» Seminar 14 - Über das Seminar

Die heutige Diskussion verlief sehr sprunghaft und unübersichtlich, deshalb können hier nur grobe Verläufe wiedergegeben werden:

Stefan hat das Protokoll des letzten Seminars mitgebracht und gibt es den anderen zu lesen.
Thomas macht den Vorschlag die Ergebnisse essayistisch zusammenzufassen. Im Internet nach meinen Berichten zu suchen und artverwandtes aufzufinden bezeichnet er als "Diskurssurfen"
Markus liest derweil aus Borges die Geschichten vor, die er schon im letzten Seminar erwähnt hatte.

(-> Jorge Luis Borges, Fiktionen. Tlön, Uqbar, Orbis Tertius) In der besagten Enzyklopädie, die von der Existenz des sagenhaften Landes Tlön berichtet sind gegenüber der Standardausgabe die Seiten 917 - 921 hinzugefügt.

Markus liest über die seltsamen Eigenschaften die der Sprache Tlöns nachgesagt werden; sie besteht einmal nur aus Adjektiven, ein anderes Mal nur aus Verben. Dementsprechend kennt Tlön nur eine einzige Wissenschaftliche Disziplin: die Psychologie.

Thomas erwähnt hier, wohl aufgrund dieser speziellen Art von Simulation die auf Tlön getrieben wird, den Philosophen Hans Vaihinger (1852 - 1933) , der ein Buch mit dem Titel "Die Philosophie des Als Ob" veröffentlicht hat. Sein Name kommt mir bekannt vor, entweder durch Heidegger oder durch Spengler.

Thomas erwähnt auch die Bedeutung des Philosophen Jeremy Bentham, einem Utilitaristen, wenn ich mich recht entsinne, der das von Foucault eindringlich beschriebene Panoptikum, einem Rundbau-Gefängnis, in dem die Gefangenen totaler optischer Kontrolle ausgesetzt sind, entworfen hatte. Bis dahin waren Gefängnisse meist Türme mittelalterlicher Anlagen, wie z.B. die Bastille in Paris.

Thomas fügt hinzu, daß Oliver Stone in einem seiner Filme ein solches Panoptikum verwendet hat.

Stefan fällt ein, daß vor kurzem Stone von einem Mann verklagt wurde, dessen Freund von zwei Jugendlichen ermordet wurde, die vor der Tat Stone´s Natural Born Killers gesehen hatten.

Stefan: Wenn ich nochmal auf diese Geschichte mit der Enzyklopädie bei Borges zurückkommen darf, so fallen mir daran zwei Dinge auf; einmal der Hang zur Nummerologie, es ist ganz entscheidend, welche Seitenzahlen der Enzyklopädie hinzugefügt wurden, zum anderen, der Hinweis darauf, daß die Enzyklopädie auf einer Auktion erworben wurde. Beides ist später sehr stark von Pynchon verwendet worden, so z. B. in seinem Roman "Die Versteigerung von Nummer 49" worin die Hauptperson durch die Ankünigung der Versteigerung eines mysteriösen Gegenstandes an eine weitverzweigte und untergründige Verschwörung in Südkalifornien glaubt.

Das ganze Buch handelt nur davon, wie kleinste Hinweise und Bruchstücke eine wahnhaftes Gebilde erzeugen können. Eines der Superzeichen darin ist ein doppeltes Posthorn, von dem die Hauptperson annimmt, daß es das Zeichen der Verschwörer ausmache. Identität und Herkunft des Zeichens werden allerdings nie aufgeklärt. Jedes Zeichen verweist auf irgendein anderes Zeichen, und in diesen Ketten ereignet sich nie eine Referenz auf die Realität.

Thomas: Erinnert mich an Wilhelm Reich, der entwickelte auch eine ganz eigene Zeichenmanie, so spricht er an einer Stelle von der zeichenhaften Umkehrung von Gesicht und Geschlecht, das Geschlecht im Gesicht tragen, das Geschlecht ein Gesicht. Er sieht beispielhaft dafür das Gesicht (visage) von Hitler, dessen Schnauzbart wie Schamhaare, sein Mund wie eine Möse wirken. Da gibt es auch ein Bild von Dalí, in dem er Hitler sexualisiert.

Stefan: Er zerlegt das regelrecht, das nur einzelne für sich unbedeutende Teile eine sexuelle Bedeutung annehmen können, oder zwei Teile zusammengenommen, ein Felsen und sein Schatten oder sein Spiegelbild im Wasser. Ein Fisch, der am Ufer liegt, wird auf diese Weise zu einem Penis.

(Wie im Protokoll das Wort "kollektiver Volksorgasmus" aufgetaucht ist, ist nicht mehr festzustellen.)

Markus zieht ein Buch des amerikanischen Verlages "Research" heraus, das nur Bilder von Menschen zeigt, die über und über tätowiert oder von Ringen, Spangen und Nadeln durchbohrt sind.

Was kann uns dieses "Piercing" sagen? Handelt es sich in seinen Extremformen um eine Art von symbolischem Tod? Der Kindheit vielleicht? Es ist auf jeden Fall eine Art von Bruch oder Schnitt. (Es gibt auch Männer, die sich eine extreme Wespentaille zulegen, bis auf 28cm Umfang)

Hier ist zum Beispiel ein Typ der voller Hakenkreuze tätowiert ist.

Stefan: Was zum Beispiel im dritten Reich nicht möglich gewesen wäre. Es gibt ein Buch, wo ein Historiker Briefe gesammelt hat, die Menschen, insbesondere Frauen, an den "Führer" geschreiben haben, wo jemand neue Rinderrassen nach Hitler, Frauen ihr Kinder, Ingenieure ihre Erfindungen benennen lassen wollten. Diese ganzen Ansinnen wurden von einer speziellen Stelle der Reichskanzlei gesammelt und ganz diskret fallen gelassen. Man bestand ja einerseits auf dem Führerkult, wollte ihn aber immer von ober herab gesteuert wissen.

Markus: Könnten wir vielleicht sagen, bei den Primitiven ging es durch die Tätowierung in die Gesellschaft hineinzukommen, also um Initiation, in der modernen Gesellschaft ist Tätowierung ein Mittel, um aus der Gesellschaft herauszukommen, stellt eine Fluchtlinie dar?

Thomas: Aber das ist doch eine ganz verquaste Praxis. Da steckt keinerlei Episteme drin, außer vielleicht bei echten Sadisten. Das ist doch bloß eine Modepraxis. Es geht doch nur um Abgrenzung und Individualisierung. Das beste Beispiel ist doch Madonna: Soft SM zur Steigerung des Umsatzes. Reiner Fetischcharakter.

Aber ich würde gerne mal aus erster Hand erfahren, warum die das Piercing betreiben, zum Beispiel diese Kleine da drüben am Tisch, warum hat die den Ring so elegant durch die Braue gestochen? Lust, Selbsterfahrung, Anmache, Kosmetik? Jetzt schaut sie weg, sieht mich, wie ich sie anschaue, sieht, das ist so ein alter Knacker, da weiß sie nichts mit anzufangen. Aber ich hätte vielleicht zu ihr rübergehen sollen.

Markus: Fetisch, in welcher Funktion? Der Körper als Fetisch versus das Acessoir als Fetisch?

  • Faschismus als entrückte Körperpraxis.
  • Radio ist Fetischisierung der Stimme.
  • Es geht immer um eine schmerzhafte Initiation, der Körper wird zum Erfahrungspotential.
  • Fetisch, das ist ein hohler Körper. Es geht um Kontaktaufnahme durch Schmerz.
  • Unsere Gesellschaft ermöglicht (Selbst)Erfahrung durch die Blicke der Anderen. Das ist das Wesen von Mode.