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Homo Oeconomicus 20.6.1996, Café Karin

kamillentee

Anwesend: Thomas Erdelmeier, Markus Halbe, Stefan Beck

Notizen:

» Seminar 01 - Nichts tun?

» Seminar 02 - Zielgerichtetes Nichts...

» Seminar 03 - Maschinen/Ästhetik?

» Seminar 04 - Kulturinstitutionen

» Seminar 05 - Darmstädter Manifest

» Seminar 06 - Hör zu oder stirb? I

» Seminar 07 - Negativität der Kultur

» Seminar 08 - Ein Desaster, das...

» Seminar 19 - nur bis zur Antike

» Seminar 10 - Zerschlagene Ohren

» Seminar 11 - Homo oeconomicus

» Seminar 12 - Various...

» Seminar 13 - Kapital. Wirklichkeit

» Seminar 14 - Über das Seminar

Thomas (im Datendandy blätternd): Hörmal, was die hier schreiben: Bei Foucault kocht nie die Milch über. Bei Habermas schlägt sich niemand ans Knie. Die kritisieren, daß bei deren Theorien der Zufall ausgeschaltet bleibt oder nie wirklich berücksichtigt wird.

Es ginge immer nur um Großtheorien, denen aber die Nuancen fehlten; die gehen nie davon aus, daß mal was Unvorhergesehenes passieren kann, daß einfach so was von Alleine losgeht oder zusammenbricht.

Stefan: Aber das wird doch von der Wahrscheinlichkeitstheorie abgedeckt. Ich dachte, Wirtschaftswissenschaftler machen nichts anderes als sich den ganzen Tag mit Unabwägbarkeiten zu beschäftigen. Niemand weiß, wie sich die Börsenkurse entwickeln werden. Da gibt es soviele Faktoren, daß es keinerlei verlässliche Simulation gibt; also werden schon längst Zufallsereignisse (Monte-Carlo-Methode) eingesetzt, um die Ergebnisse wirklichkeitsnäher zu machen.

Thomas: Stimmt, ich kannte mal einen Typen, der hat für eine Bank gearbeitet und nichts anderes gemacht als den ganzen Tag Simulationen von Wertpapierentwicklungen durchgeführt, reine Computerberechnungen.

Stefan: Ja, aber das Dumme ist, daß die anderen auch simulieren. Korrekterweise müßte man das auch in seiner Simulation berücksichtigen, wenn man nur wüßte, was und mit welchem Ergebnis die anderen simulieren. Jede Simulation nimmt Einfluß auf die Wirklichkeit. Und das ist ja auch ihr Sinn und Zweck.

Ich simuliere, damit ich mich in Zukunft anders verhalten kann; ich will ja eine Änderung. Wissen ist direkter Einfluß. Das hatten schon die Theologen des Mittelalters bemerkt.

Entweder ist Gott allwissend, dann kann er nicht allmächtig sein; oder er ist allmächtig, dann kann er aber nicht allwissend sein.

Thomas: Vor einiger Zeit habe ich ein Buch gelesen "Homo Oeconomicus", erschienen im Campus Verlag, von einem englischen Wirtschaftstheoretiker, daß du dein ganzes Leben bloß wirtschaftlichen Erwägungen unterwerfen sollst, dich vor jeder Entscheidung fragen, was sie dich kostet, und wie du dabei sparen kannst. Das dehnt er auf jeden Bereich des Privatlebens aus, bis hin zu Sex.

Stefan: Wie das?

Thomas: Nun, er sagt, wenn Du mit einer Frau ausgehst, sie zum Essen einlädtst, oder ins Kino, ihr Geschenke machst, und dann nur Sex im Kopf hast, dann gibt es ja immer ein Risiko, daß sie Nein sagt, und du bleibst auf deinen Investitionen sitzen. Dann ist es billiger und besser, wenn du gleich in den Puff gehst.

Markus: Verrückt.

Thomas: Das ist die totale Selbstorganisation deiner selbst als Eigenproduzent, als Mini-Unternehmer. Selbstbewirtschaftung. Der Triumph der instrumentellen Vernunft.'

Stefan: Aber in gewisser Weise betrachtet der Bourdieu das ja ähnlich, wenn davon spricht, daß die Beziehungen der Menschen strategisch wären, und nicht nur homogen an Klasseninteressen gebunden. Du denkst dich in Positionen im sozialen Feld und richtest dein Handeln nach den sich dir ergebenden Möglichkeiten aus.

Markus: Was für ein Kapital meint noch der Bourdieu?

Stefan: Bourdieu spricht von monetärem, sozialem und kulturellen Kapital, die jeweils in einander überführt werden können. Geld ist eine gute Voraussetzung um kulturelles Kapital zu erwerben, aber nicht alles, wie seine Koordinatensysteme zeigen; es gibt die Gruppen, die sehr viel Geld aber wenig kulturelles Kapital besitzen, und welche die viel kulturelles Kapital aber wenig Geld haben. In Gruppen gleichen Vermögens kann kulturelles Kapital als Distinktion, als Möglichkeit der Abhebung von anderen, sei es durch Mode oder Konzertbesuche oder ein skurriles Hobby, dienen.

Thomas: Dem Homo Oeconomicus geht es aber letztlich um die Überprüfbarkeit der Strategien, indem er schließlich alles auf seinen pekuniären Wert zurückführt. Mann und Frau führen damit ein Balzritual auf - um seine Brieftasche.

Markus: Vielleicht nicht in unseren Kreisen, aber es gibt Schichten, in denen es üblich ist, daß die Frau Geschenke bekommt, Kleider, Schmuck, zum Essen ausgeführt wird, nicht bloß einmal, sondern öfters.

Thomas: In unserer Gesellschaft beruht alles auf Akkumulation, durch stetiges Anhäufen von Werten wird Reichtum erworben. In Serien kleiner Erwerbungen (Räubereien). Deshalb war auch der Warhol so erfolgreich, er hat das Gesetz der Serie voll ausgenutzt. Die Bilder waren nur als Massenauflage sinnvoll und heiß. Warhol - das bedeutete die vollkommene Kohärenz mit dem System, eine 1:1 Abbildung der Kunstproduktion auf die herrschenden Zustände.

Markus: Vielleicht hat der Borges deswegen ausgeführt, daß die ideale Bibliothek nur aus einem Buch besteht. Und gerade darin liegt auch der Widerspruch, weil ein Buch keine Mittelseite hat.

In einer anderen Geschichte entwickelt er die Idee einer imaginären Welt, deren Existenz nur durch eine einzige Zeile in einer Enzyklopädie gesichert scheint, auf die hin sich dann ein ganzer wissenschaftlicher Apparat in Bewegung setzt, der nach und nach ein Gebäude auf diesem einen Satz errichtet und immer mehr und immer mehr daran anfügt, bis jeder der Meinung ist, daß diese Welt wirklich existiert, sie anerkennt, voll und ganz in ihr lebt und sie schließlich unentbehrlich findet. Aber ich denke nicht, daß so etwas möglich ist.

Stefan: Wieso nicht, vollkommene Täuschungen hat es immer wieder gegeben. So zum Beispiel den Leninismus, Millionen Menschen haben an die Lehren von Lenin geglaubt und sie für die absolute Wirklichkeit gehalten, hinter der keine andere mehr existieren konnte.

Thomas: Da Sprache nur in ihrer Sozialität funktioniert, ist das, was beschrieben wird nur in dem Kontext verlässlich, in dem es auch produziert wird. Die Notwendigkeit mit der Borges imaginäre Welt beschrieben wird, macht auch ihre Existenz notwendig.

Stefan: Es kann gar nicht anders sein, als, daß das, was tausende von Wissenschaftlern beschreiben als real angesehen wird. Der Leninismus hat 70 Jahre Bestand gehabt, bis sich schließlich niemand mehr fand der daran glauben wollte, aber er hatte doch alle Merkmale einer imaginären Welt; auf den wenigen Schriften Lenins wurde ein ganzes Gebäude errichtet.

Markus: Nein, aber bei Borges ist es viel dichter. Es ist nur ein Satz in einer Enzyklopädie, der noch nicht einmal in allen Ausgaben vorkommt, sondern nur in einer von zwanzig, und dann fragen sich die Leute, wie kommt denn das, wie geht das denn? Schließlich glaubt aber jeder daran.
Stefan: Wissenschaft ist irgendwo Aberglaube, aber ein sehr perfekter Aberglaube, und wir sind selten in der Lage ihn einfach so zu widerlegen.

Markus: Das ist wie mit der Mondlandung. Da gibt es immer noch Leute, die behaupten, daß das der größte Betrug aller Zeiten war; daß sich alles im Studio abgespielt hat und der Öffentlichkeit falsche Bilder vorgespielt wurden.

Stefan: Das können wir tatsächlich kaum überprüfen. Aber wenn es für unser Leben eine Bedeutung hätte, dann fänden wir auch Mittel und Wege das zu validieren. Aber ich kann ganz gut damit leben, daß die Mondlandung eine Simulation war oder nicht. Kratzt mich nicht.

Thomas: In ähnlicher, aber auch zynischer Weise haben ja auch Baudrillard und Virillo den Golfkrieg als Simulation denunziert; das wäre alles im Studio inszeniert worden. Alle Aufnahmen von diesen ferngesteuerten Lenkwaffen wären Computersimulationen gewesen.

Stefan: Nun ja, wie das Internet, da spielt die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion auch keine Rolle mehr.

Markus: Glaubst Du nicht, daß immer mehr auch keine Lust mehr auf solche Spiele haben und sich etwas echtes wünschen, grüne Wiesen oder so?

Stefan: Ich glaub das Internet wird sich noch weiter diversifizieren, in alle Richtungen und Geschmäcker. Aber Künstlich und Natürlich spielen da keine Rolle mehr.

Thomas: Das dümmste, was Du machen kannst, ist blöd rumsurfen.

Markus: Der Datendandy sagt: Nein. Genau das ises!

Stefan: In Grunde ist das Internet die Verkörperung dessen, was wir schon im Golfkrieg hatten. Jeder Schuß ein Treffer. Desert Storm war das Super-Surf-Abenteuer. Du kannst auch im Internet nicht mehr daneben schiessen, weil Du von den Links sicher ins Ziel geleitet wirst. URL heisst Unique Resource Locator. Das ist genauso, wie diese intelligenten Raketen, die sich via Terrain Map ins Ziel bringen.

Thomas: Internet - Im Spätkapitalismus geht es letztlich darum neue Märkte zu erschließen und über entsprechende Ausschlußmechanismen auszusaugen. Du mußt die draußen halten, die sich deine Produkte nicht leisten können.

Stefan: Bin ich nicht so sicher, schließlich will doch der Kapitalist nur verdienen, und im Hinblick auf das Internet wollen sie doch wirklich alle hineinbekommen, jedenfalls alle, die normal arbeiten; denen wollen sie die 500$ Computer verkaufen und ins Netz schleusen.

Markus: Vielleicht sollte man wirklich mal daran denken, langsamer als alle zu sein, nicht immer der schnellste sein wollen.

Stefan: Aber dann mußt du aufpassen, daß Du nicht von der Nachhut überrannt wirst.

Thomas: Ja, und auch das noch. Du mußt viel viel langsamer sein.

Stefan: Schneller. Langsamer. Da sind wir wieder bei der Psycho-Diskussion, die ich neulich mit Markus hatte, ob es nicht sinnvoll ist, auf das Stadium eines Internierten zurückzugehen.

Thomas: Ja, und die Leute endlich mal dazu bringen, all ihre Neurosen vollkommen auszuleben.

Stefan: Wie das denn, das ist doch gerade die Neurose, daß Du sie auslebst. Ich hab meine Neurose 15 Jahre ausgelebt, und damit mach ich jetzt Schluß! Die Neurose ist ja gerade wunderbar integrierbar. Alle Zwangsneurotiker können sich im Staatsapparat voll ausleben. Wer einen Zählzwang hat, geht zur Bank, Sadisten zur Polizei.

Thomas: Ja, aber die Psychotiker sind nicht mehr integrierbar. Wer so richtig paranoid ist, der paßt nirgends mehr rein.

Stefan: Aber das ist keine Perspektive. Wenn Du irgendwo rausfällst, dann kann es dir ganz leicht passieren, daß sie dich von der Straße holen und du irgendwo verschwindest. So wie sie es schon mit den Junkies machen.

Thomas: Apropos Junkies, das ist natürlich auch nur so eine Propaganda, daß du durch Drogenkonsum herausfällst. Viele können das jahrelang nehmen ohne aufzufallen.

Aber gerade in Kalifornien, da sind sie gerade ganz stark in diesem PROZAC drinn, das ist ein Mittel, das ursprünglich gegen manisch-depressive Zustände entwickelt wurde, und das überhaupt keine Nebenwirkungen hat, außer, daß du jede Furcht verlierst.

Da haben sie total Angst, daß es zu Auschreitungen kommt, wenn die Ghettokids das in größerem Umfang nehmen, die gehen dann allein in eine Polizeistation und schießen alle übern Haufen, die sorgen sich überhauptnicht mehr um ihr eigenes Leben. Aber jetzt haben sie angeblich herausgebracht, daß es nach Jahren zu Anfällen führen kann, ganz plötzlicher Natur. Dir ging es gut und plötzlich drehst Du durch, springst aus dem Fenster oder rennst Amok.

Markus: Aber das haben sie vielleicht mit Absicht in Umlauf gebracht, um vor der Droge abzuschrecken?

Stefan: Wie heißt das?

Thomas: Hast Du davon noch nicht gehört? PROZAC oder so ähnlich, weiß nicht, wie sich das schreibt.