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Kapitalistische Wirklichkeit 4.7.1996, Café Karin

kamillentee

Anwesend: Thomas Erdelmeier, Stefan Beck

Notizen:

» Seminar 01 - Nichts tun?

» Seminar 02 - Zielgerichtetes Nichts...

» Seminar 03 - Maschinen/Ästhetik?

» Seminar 04 - Kulturinstitutionen

» Seminar 05 - Darmstädter Manifest

» Seminar 06 - Hör zu oder stirb? I

» Seminar 07 - Negativität der Kultur

» Seminar 08 - Ein Desaster, das...

» Seminar 19 - nur bis zur Antike

» Seminar 10 - Zerschlagene Ohren

» Seminar 11 - Homo oeconomicus

» Seminar 12 - Various...

» Seminar 13 - Kapital. Wirklichkeit

» Seminar 14 - Über das Seminar

Thomas und ich, Stefan, sind heute allein im Seminar. Thomas blättert in einem dieser Wochenend-Magazine, die jetzt jeder überregionalen Zeitung beiliegen. Das Titelbild verspricht eine Geschichte über einen Sänger, dessen Name mir wieder entfallen ist.

Wir finden beide, daß diese Art der Berichterstattung der bürgerlichen Presse ganz gemäß ist. "Lauter dreckige Erfolgsgeschichten"

Es handelt sich immer um Stories, die eine Art von Aufstieg behandeln, der von der Leserschaft, vielleicht Ärzte, Anwälte, Manager, gerade noch zu verstehen ist. Mit einem Hauch von Exotik, aber nicht zuviel.

(Hier fällt mir eine Geschichte von Peter Bichsel ein, der eindringlich beschreibt, was passiert, wenn ein Junge Kunst studieren will:"Die Eltern hatten Angst, daß er etwas werden könnte, was man nicht werden kann.")

Die dargestellte Karriere darf vielleicht außerhalb der Möglichkeiten des durchschnittlichen Lesers liegen, aber nie außerhalb seiner Vorstellungskraft. Wenn nötig wird, dann etwas herumgefeilt.

Erfolg im Kunstbetrieb

Vor ein paar Jahren las ich im Flugzeug eine Reportage über die Künstlerin Rebecca Horn. Aufgebaut nach dem Muster: "Junges Mädchen kommt ohne Plan nach New York und wird bekannte Künstlerin...." Dazu gabs schicke Fotos mit Weitwinkeloptik aus ihrem Atelier, sie immer im Vordergrund, im Hintergrund ein paar Assistenten; dieses Weitwinkel schuf so eine enorme Atmosphäre von Wichtigkeit. Wir sehen sofort, diese Frau hats geschafft, Atelier so groß wie ein Ballsaal, ein Haufen Mitarbeiter, die sie dirigieren kann.

Ich dachte sogleich, daß ich mal so eine Story als Muster für einen Kunstkatalog nehmen sollte; sonst ist ja immer der Katalog der Anlaß zum Erfolg, jetzt wäre es mal umgekehrt, der Katalog verkörpert selbst in seiner Form den Erfolg. Das wollen sie ja nie so haben, das muß immer schön getrennt bleiben.

Mal ´ne andere Frage:

Was hälst Du eigentlich von Supermärkten?

Mich beschäftigen Supermärkte schon eine ganze Weile, die haben durchaus was mit Medien zu tun, nicht unbedingt mit Untergrund, aber die ausgestellten Waren, sind ja in ihrer industriellen Herstellung und Versteilung durchaus als Medien zu sehen, schon von der Verpackung her.

Thomas: Ich hasse sie, wenn ich im Supermarkt bin, dann will ich immer wieder schnell raus, so schnell als möglich, es ist immer eng, Du kannst nie gerade weg zur Kasse gehen, und letztlich sind sie auch nicht billig, es gibt nur keinen Vergleich mehr, weil die Konkurrenz des Einzelhandelsgeschäfte länst tot ist.

Stefan: Aha, ich komme nämlich darauf, weil ich von einem Bekannten höre, daß er immer Anfälle im Supermarkt bekommt, wenn er Tüten schleppt und auf die Kasse zugeht wird ihm schwindelig.

Und letztes Wochenende erzählte mir meine Ex-Freundin, daß sie in letzter Zeit auch Beklemmungen im Supermarkt bekäme.

Ich dachte, vielleicht sollte man die Symptome wirklich ernst nehmen und fragen, wie das mit dem Ort, an dem sie auftreten zusammenhängt.

Was ist das eigentlich, so ein Supermarkt? Das ist doch ein total künstlicher Platz, wo Nahrungsmittel in vollkommen unnatürlicher Weise angeboten werden, alles ist verpackt, zerteilt, getrennt. Es gibt kaum Sachen im Rohzustand, sondern alles ist schon irgendwie bearbeitet.

Und gerade bei der Nahrung hört ja der Spaß auf. Wie es kulturell und politisch steht kann Dir ja erst einmal egal sein, Du mußt Dich nicht damit beschäftigen, aber essen muß jeder, das kannst Du nicht einfach aufgeben oder durch etwas anderes ersetzen.

Vielleicht wird Dir daher im Supermarkt die Realität des Kapitalismus am deutlichsten gemacht. Du willst etwas eigenes und Dir gemäßes, aber Du findest nur Waren, Du willst Wasser, aber sie geben Dir nur "Perrier", statt Bier "Henninger" und statt Honig gibt es nur "Langnese". Und am Ende mußt Du noch daür bezahlen.

Thomas: Wenn ich nochmal auf die Diskussion von letzter Woche zurückkommen darf, so liegt doch der Unterschied zwischen unserer und einer Primitiven Gesellschaft darin, daß Du in der primitiven Gesellschaft nach der Initiation definitiv in den Stamm aufgenommen bist, Deinen Platz darin einnimmst und nicht mehr heraus fallen kannst. Während bei uns Du Dich ständig neu beweisen, immer neue Initiationen über Dich ergehen lassen musst und jeder Zeit herausfliegen kannst.

Es gibt für Dich keine Sicherheit, selbst wenn Du 60 Jahre alt bist; dann schmeissen sie Dich immer, und gerade, noch raus.

// Daran schließt sich ein Geschspräch über unsere Entfremdung an, die wir vielleicht im Supermarkt am Deutlichsten spüren, sich aber auch in unserem Gefühl der Getrenntheit von anderen Mitmenschen ausdrückt. Thomas weist daraufhin, daß wir noch zu einer Generation gehören, die nicht die Krabbelstuben- und Kinderladen-Erfahrung gemacht hat. Wir Einzel-Kinder sind nicht in einer großen Kinderhorde aufgewachsen.//

Stefan: Ich wollte noch nicht einmal in den Kindergarten gehen.

Thomas: Ich war schon im Kindergarten, aber da ging es ja total streng zu. Also, dieses Gefühl sich gegenseitig anfassen und berühren zu können, das gabs da nicht.

Stefan: Für die ARTE-Sendung, die ich jetzt vorbereite, hat auch ein Regisseur einen ganz guten Beitrag gemacht: "Sieben Schlafzimmer", worin Leute über das Schlafzimmer ihrer Eltern, die Sexualität ihrer Eltern und ihre eigene Sexualität berichten.

Darunter war auch eine junge Frau, die einen im besten Sinne "hemmungslosen" Eindruck machte, und dies auf die zwanglose Atmosphäre im Kinderladen zurückführte, den ganz Tag nackt herumlaufen, sich überall anfassen dürfen.

Die Felicia Herrschaft hat mal den interessanten Gedanken ausgedrückt, daß diese Ambient und Chill-Out Welle ein Versuch wäre die agressionsfreie und wohltätige Atmosphäre der Kinderläden wieder herzustellen.

Sie meinte, der Hantel und der Haaksman, die das Lissania gemacht hätten, wären beide im gleichen Kinderladen gewesen (Ob das stimmt?). Aber in Frankfurt wäre der erste Kinderladen 1970 eröffnet worden. Die Generation derer, die jetzt Raves, Parties und Events veranstalteten, hätten als erste diese Erfahrungen gemacht. Wir vor-70er leider nicht.